Diese Woche jährte sich die Veröffentlichung von Desenchantée. Hierzu gibt es im Folgenden einen Gastbeitrag von János – viel Spaß damit und Danke nochmals 🙂 (den kompletten Beitrag erhalten ihr via „read more“)
von János Janurik
In diesen Tagen feiert man die Erscheinung der vielleicht bekanntesten Synthpop-Hymne der Franzosen, gesungen von Mylène Farmer, komponiert und cineastisch mit fantastischen und düsteren Bildern untermalt von Laurent Boutonnat. Ein legendärer Song. Gepaart mit einem legendären, Kino-artigen Clip, welcher – seit nunmehr 30 Jahren – zu den allerbesten des Francopops gehört und auch einen internationalen Erfolg genießt. Denken wir nur an die Hit-Single “Disappointed” von der Electro-Supergroup Electronic, die laut Sänger Neil Tennant eindeutig durch “Désenchantée” inspiriert wurde. („Disappointed“ heißt auf Französisch „Désenchanté“).
Für eine lange Zeit bedeuteten die typischen 80er Hits wie „Joe le taxi“ von Vanessa Paradis, „Voyage, voyage“ von Desirelles und „Nuit de folie“ von Début de Soirée mein einziger Kontakt zur französischen Popmusik. An dieser Tatsache hat dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Einführung des französischen Musikfernsehsenders MCM in Ungarn geändert. Ich schaltete nämlich immer öfter auf diesen Sender um, wenn ich mir Clips anschauen wollte. Und so entdeckte ich mir eine gewisse Mylène Farmer, die damals schon eine hohe Beliebtheit in den französischsprachigen Ländern genoss. Die Geschichte eines langjährigen Fan-Seins begann für mich mit dem Song und Clip „Désenchantée“. Ich war voller Stolz, als ich erfuhr, dass dieser legendäre Kurzfilm in meinem Heimatland, in Budapest und auf der Puszta gedreht wurde. Nach etwas Recherche begegnete ich zu meinem Glück einen ungarischen Produktionsleiter und bekam von ihm die Dokumentation der damaligen Dreharbeiten in Ungarn. Eine alte, ein bisschen schon abgenutzte Dokumentenmappe, die aber für mich von einem ganz bedeutenden Wert ist.
Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Erstveröffentlichung von „Désenchantée“ nahm ich diese Mappe wieder in die Hand und lud einen Freund (auch oldschool Depeche Mode-Fan wie ich und wie auch Myléne Farmer) zum Online-Gespräch ein. Warum gerade ihn? Da er damals eine kleine Statistenrolle im Clip zum obigen Song spielte.
Was Myléne Farmer von der Mittelmäßigkeit im französischsprachigen Raum weit über ihre Zeitgenossen heraushob, war das cineastische Talent von Laurent Boutonnat, seine oft Tarkovsky-ähnlichen, poetischen, filmischen Clips, die nie ein Happy End hatten. Nach der ersten, sehr erfolgreichen Tournee von Myléne Farmer, die sie durch Frankreich, nach Belgien und in die Schweiz führte, kam eine längere Schaffenspause und alle Fans (und natürlich auch die Kritiker) warteten gespannt und neugierig auf die Rückkehr von der rothaarigen Sängerin.
Ihre roten Haare wurden kurz geschnitten und Mademoiselle Farmer meldete sich mit diesem neuen, androgynen Look am 18. März 1991 mit einer brandneuen – von Emil Ciorans Werk „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“ inspirierten – Single, die „Désenchantée“ („Ernüchtert“) hieß.
Die einleitenden Klavier-Akkorde zu Beginn des Songs deuteten schon auf eine düstere, hypnotische Grundstimmung, das Lied war aber dank dessen Basslines und Sequenzen auch tanzbar und wurde später zum Konzertklassiker.
Der großartige Song brauchte auch einen großartigen Clip und die Kulissen dazu hat das Farmer-/ Boutonnat-Tandem in Ungarn gefunden. Sie fanden da auch ein professionelles Kinoteam, das auch an dem mehrmals ausgezeichneten Film von Jean-Paul Rappeneau „Cyrano von Bergerac“ gearbeitet hatte.
Die Bilder vom Clip zu „Désenchantée“ zitierten sowohl David Leans Verfilmung von „Oliver Twist“ (vor allem die berühmte Szene „Bitte, Sir, ich will noch einige mehr“) als auch Victor Hugos „Die Elenden“ (Gassenbub Gavroche und die jungen Helfer der Revolution) und nicht zu vergessen ist die Schlussszene, die von Delacroixs „Die Freiheit führt das Volk“ inspiriert wurde.
Für die Dreharbeiten brauchte der Regisseur ganz viele Extras, und zwar Jugendliche. Einer von diesen war Zsolt László, den ich schon seit langem (als Depeche Mode-Fan) kenne. Er erinnerte sich voller Nostalgie an diese Tage im Februar 1991:
Meiner Erinnerung nach gab es schon im Herbst vom Vorjahr Castingsuche, wo ich gemeinsam mit einem Freund von mir – beide Mittelschüler und in einem Schülerheim in Budapest unterbracht – entdeckt und ausgewählt wurden. Ich denke, da spielten auch meine damals drastisch kurz geschnittenen Haare eine Rolle und da wir auch von unserem Gesicht her gut zu den Vorstellungen des Regisseurs passten. Er wollte nämlich eher düstere Gesichter für seinen Film haben. Die Dreharbeiten dauerten etwa eine Woche lang, das Wetter war sehr kalt und wir hatten viel Schnee. Wir kriegten eine Bestätigung vom Ministerium, dass wir für diese Zeit vom Unterricht freigestellt sind. Na, das war ja eh Spitze!
Das Filmdrehen war amüsant, die meisten Szenen wurden in einem alten Fabrikgebäude aufgenommen (in der Budapester Máriássy Str., inzwischen demontiert worden, Anm. d. Verfassers) Wir saßen da in einer großen Fabrikhalle und warteten auf unsere Szenen, je nachdem, wie viele Kids der Regisseur für die aktuelle Filmszene brauchte.
Die Dreharbeiten dauerten den ganzen Tag und in den Pausen bekamen wir da leckere Sandwiches, heiße Schokolade oder Cappuccino. Als Teenager mit viel zu wenig Taschengeld genoss man das natürlich sehr!
Wir konnten da auch ein bisschen Geld verdienen und mit diesem Geld kaufte ich mir später meinen ersten Walkman. Natürlich zum Abspielen meiner Depeche Mode-Kassetten.Myléne Farmer kannte ich vorher gar nicht, erst nach diesen gemeinsamen Dreharbeiten begann ich ihre Musik kennenzulernen. Sie wirkte aber sehr sympathisch und war mit ihren kurzen, roten Haaren auch ganz mein Typ.
Während der Dreharbeiten mussten wir manchmal alte Wagen kaputtmachen oder an dem brennenden Fabrikgebäude vorbeilaufen, was wir Kids für lustig und spannend hielten.
Die letzte Szene, die in der Puszta gedreht wurde, mussten wir mehrmals aufnehmen. Da führte uns, aus dem Arbeitslager befreite Kinder, Myléne in die Freiheit. Wir mussten an ihr vorbeilaufen, ohne sie zu überholen, was uns nicht immer gelang.
Da sagte uns das Drehteam halb im Spaß-halb im Ernst: wenn das so weitergeht, dann werden wir nie unseren Feierabend haben.
Ich habe also schöne Erinnerungen an diese Dreharbeiten.
Quelle: Zsolt László – Online-Interview
Zsolt László hatte die Castingnummer 76, die man in der beigefügten Liste der Statisten auch finden kann. Man sieht ihn auch in der Doku über die Dreharbeiten in Ungarn.
Die Single und das Video wurden sofort zum Hit – und zwar ein zeitloser. Sogar in Deutschland wurde die Single veröffentlicht, konnte aber erst durch eine Coverversion von der belgischen Dance-Sängerin Kate Ryan im Jahre 2002 einem größeren Publikum bekannt gemacht werden.
Myléne Farmer genießt noch immer eine Spitzenposition unter ihren Fans und ist ein Phänomen in der französischen Pop-Szene. “Désenchantée” wurde auch während ihrer letzten Tour im Sommer 2019 in der La Défense Arena in Paris live aufgeführt.
Und die Halle tobte – wie immer.
On t’aime, Myléne!
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